Wenn zwei zusammenhanglose Begriffe zueinander finden, dann ist etwas entstanden, wofür es noch keine Worte gab. So auch beim „Audittourismus“.
Audit: „… systematischer, unabhängiger und dokumentierter Prozess zur Erlangung von Auditnachweisen und zu deren objektiver Auswertung, um zu ermitteln, inwieweit Auditkriterien erfüllt sind.“ [ISO 9000:2005]
Tourismus: „… auch Touristik, Fremdenverkehr ist ein Überbegriff für Reisen, die Reisebranche und das Gastgewerbe und die Freizeitwirtschaft.“ [Wikipedia]
Es gab einmal den Kerngedanken, dass eine nach ISO 9001 zertifiziert Organisation mit dem akkreditierten Zertifikat von Kundenaudits verschont bleibt. Jedoch haben viele Kunden festgestellt, dass ISO 9001 Zertifikate keine echten Qualitätssiegel sind. Aus diesem Grund werden weiterhin Audits bei den Lieferanten durchgeführt.
Parallel haben sich Branchenstandards entwickelt, welche in der Regel einen Großteil der ISO 9001 wiederholen (ggf. mit anderen Worten) und Einzelthemen ergänzen oder besonders betonen.
Freude kommt nur bei den Zertifizierungsgesellschaften, Trainingsanbietern und auch bei einigen Beratern auf, da jeder Standard dokumentiert, eingeführt, geschult und auditiert werden will. Ich beobachte jedoch keinerlei Qualitätsverbesserung durch diese Normflut. Vielmehr verlieren auch noch die letzten Enthusiasten die Lust am Managementsystem. Die Gründe hierfür sind:
- Jedes Zertifikat kostet viel Geld (auch wenn durch Kombinationen von Standards Geld „gespart“ werden kann)
- Verschiedene Auditoren haben unterschiedliche Sichtweisen und Schwerpunkte. Hierbei entstehen sogar krasse Widersprüche in den Empfehlungen oder Abweichungen.
- Die Prozessverantwortlichen / Führungskräfte haben keine Lust sich mit weiteren Neuerungen auseinanderzusetzen und wälzen Themen noch stärker als zuvor auf den Managementbeauftragten (QMB) ab.
Was tun gegen den Audittourismus?
Dabei wäre die Lösung für das Problem recht einfach, wenn da nicht eine extrem starke „Zertifizierungslobby“ wäre. Meiner Ansicht nach reichen folgende Standards vollkommen aus, wenn Zertifizierungsauditoren branchenspezifische Anforderungen beherrschen und mit Augenmaß berücksichtigen würden:
- ISO 9001 für Qualitätsmanagement und allgemeine Systemorganisation,
- ISO 14001 für Umweltmanagementsysteme und
OHSAS 18001 für den Arbeits- und Gesundheitsschutz.
Alle anderen Standards könnten als Leitfädenbetrachtet werden, welche die Kunden bei ihren Lieferantenaudits anwenden. Welche Standards erwartet werden, könnte in Qualitätssicherungsvereinbarungen (QSV) festgelegt werden. So könnten die Automobilhersteller weiterhin auf die ISO/TS 16949 verweisen oder die Bahn auf die IRIS Checkliste. Das aktuelle Thema „Energiemanagement“ könnte ein ergänzender Leitfaden für die ISO 14001 sein. Dann würden Unternehmen das Thema ggf. ernster nehmen und nicht nur auf die Fördermittel schielen.
Richtig rund wäre das Paket, wenn die Branchenstandards nicht die drei Grundnormen inhaltlich wiederholen würden, sondern sich auf die tatsächlichen Konkretisierungen und Ergänzungen konzentrieren würden. Am besten gelingt dies aktuell der ISO/TS 16949, welche die komplette ISO 9001 beinhaltet und die relevanten Absätze ergänzt.
Reine Fragenkataloge (IRIS, IFS, …) sollten vielmehr als Hilfen oder Checklisten betrachtet werden. Würden die Schreiber von Branchenstandards die Grundthemen (Ziele, KVP, Audits, …) weglassen, dann wären diese Standards wieder übersichtlicher und echte Hilfsmittel zur Verbesserung von Qualität, Umwelt- und Arbeitsschutz.
Leider habe ich jedoch den Eindruck, dass die Reise immer noch in eine andere Richtung geht: Neue Standards entstehen, Zertifikate werden gefordert und der Audittourismus wird weiterhin zunehmen.
Willkommen im Normendschungel.
Anmerkung: Dieser Artikel ist in der Ausgabe Juli 2012 der Industrial Quality erschienen.
In diesem Zusammenhang könnte auch der Blogbeitrag Normflut für Managementsysteme interessant sein.